26.06.2013

Die weiße Wüste

26.06.2013

Die weiße Wüste

Hardangervidda Wintertour 2013

Die Hardangervidda ist eine der unfreundlichsten Gegenden im norwegischen Winter. Der Fotograf und Abenteurer Martin Hülle hat in ihr jedoch ein zweites, eisiges Zuhause gefunden. Geschichten eines freiwillig Süchtigen …

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Im Januar 2003 machte ich mich zum ersten Mal im Winter auf, eine Runde mit Ski und Pulka-Schlitten über die Hardangervidda zu drehen. Zu dem Zeitpunkt spielte ich schon mit dem Gedanken, Grönland zu durchqueren. Daher erschien mir die Gegend zur Vorbereitung ideal. Ich lief zur miesesten Zeit allein über das Hochplateau, und von den 12 Tagen, die ich unterwegs war, verbrachte ich fünf bei Sturm und White-Out im Zelt. Begegnet bin ich niemandem, aber es war auf jeden Fall ein gutes Training.

Mein Herz schlägt für Polarabenteuer, und zur Vorbereitung auf Expeditionen ist die windige Hochebene ein perfektes Gebiet, da die klimatischen Verhältnisse und die Topografie vergleichbare Bedingungen schaffen wie auf ausgedehnten Eiskappen. Natürlich ist es dabei nicht schön, bei 33 Grad unter Null im Zelt zu sitzen. Der Dampf des heißen Tees gefror am Becherrand, und die Frage war durchaus berechtigt, ob das farbenfrohe Idyll am Himmel – diese blauen, roten und violetten Abendstunden – die Unannehmlichkeiten aufwiegt. Aber wie immer war es die Schönheit der Natur, die all die Strapazen nichtig machte.

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Ein paar Jahre später lief ich mit Jerome Blösser über die Hochebene, um für ein Arktisabenteurer zu trainieren. Aber Herausforderungen liegen oft näher, als man denkt. Wenige Stunden nach unserem Aufbruch in Haukeliseter verschlechterte sich das Wetter, jegliche Konturen verschwanden in dichten Wolken, die mit dem Schnee zu einem einheitlichen Brei verschmolzen. White-Out! Ein Oben und Unten war nicht mehr zu unterscheiden. Ich glaubte einen Steinmann im Nichts zu erkennen und hielt auf diese Sommermarkierung zu, als mir urplötzlich die Beine wegsackten und ich in die Tiefe stürzte. Den Abgrund hatte ich beim besten Willen nicht erkannt. Der Fall ins Bodenlose dauerte eine gefühlte Ewigkeit, und mir ging durch den Kopf, worauf ich aufschlagen könnte. Eine Schreckensvision von spitzen Steinen. Doch nach Sekundenbruchteilen fing mich ein tief verschneiter Hang sanfter auf als befürchtet. Ich sortierte meine Beine, sah, dass nichts zu Bruch gegangen war, weder Mensch noch Ski, und blickte nach oben. In dem Moment kam Jerome an die Abbruchkante. Er war hinter mir hergelaufen und hatte im Gegenwind nur auf seine Skispitzen gestarrt und meinen rasanten Abgang gar nicht mitbekommen. Als er mich dann unter sich entdeckte, war es auch für ihn zu spät. Er konnte seinen eigenen Absturz nicht aufhalten und fiel ebenfalls in den metertiefen Graben. Wie eine Granate schlug er neben mir ein. Doch bis auf ein kaputtes Zuggestänge an der Pulka kamen wir mit dem Schrecken davon. Fast ein Wunder. Nachdem uns das Entsetzen aus den Augen gewichen war und wir unser großes Glück realisierten, verfielen wir in hysterisches Gelächter. Von da an tasteten wir uns behutsamer über die Hardangervidda, bei weiterhin meist schlechter Sicht, in der sich nur selten die Sonne zeigte und die Szenerie in ein fahles Licht tauchte.

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Allein in der Spur, die Verantwortung für alles tragen. Solotouren über die Hardangervidda sind vor allem in den frühen Wintermonaten eine lockende Herausforderung. Die Chancen stehen gut, keiner Menschenseele zu begegnen. Die Aussicht auf diese Einsamkeit entfachte auch bei mir einen zusätzlichen Kitzel – völlig frei durch die Berge zu ziehen, ist ein erhabenes Gefühl. Aber es setzt Erfahrung voraus. Die beste Sicherheit ist zu wissen, was man zu tun und zu lassen hat. Und zwar nicht erst dann, wenn es brenzlig wird, sondern auch schon vorbeugend. Dieses Wissen muss man sich über viele Touren erarbeiten, und es ist sinnvoll, klein anzufangen und die Schwierigkeiten der Unternehmungen nach und nach zu steigern. Wenn man dann weiß, was man tut, ist es besonders. Die ohnehin weit auseinander liegenden Pole zwischen unerträglicher Kälte, der zermürbenden Anstrengung des Schlittenziehens, dem „Kampf mit den Elementen“ und der Freude über einen wärmenden Sonnenstrahl, einen Schokoriegel zur rechten Zeit oder auch mal eine Sicherheit spendende Hütte sind allein erlebt umso intensiver.

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Der Klassiker ist eine Nord-Süd-Überquerung der Hochebene von Finse bis nach Haukeliseter. Oder umgekehrt. Mindestens acht Tage sollte man für die Tour einplanen, um auch mal einen Schlechtwettertag aussitzen zu können. Die Gegend ist eine wahrlich weiße Wüste. Vor allem im flacheren Ostteil scheint die Einsamkeit bis jenseits des Horizonts zu reichen. Ohne jegliche Markierung kann die Orientierung in der weitläufigen Landschaft schwierig werden. Erst ab Anfang März werden einige Routen mit Ästen versehen, die den Skiwanderern auch im miesesten White-Out die Richtung weisen. Über die „Kvisteruter“, die abgesteckten Wege, sollte man sich vorab informieren und Änderungen aufgrund des Wetters oder der Schneebedingungen bei der Planung einer Route immer bedenken.

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Aber wie sagte ich mir während der turbulenten Touren immer wieder: „Es könnte noch schlimmer kommen!“ So erreichte ich das Ziel immer glücklich und voller Stolz. Darüber, mich mit der harschen Natur arrangiert zu haben. Und voller Freude, sie so intensiv gespürt haben zu dürfen.

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Gast-Blogger: Martin Hülle

Website: www.martin-huelle.de
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Twitter: twitter.com/MartinHuelle
Facebook: www.facebook.com/MartinHuelleFotografie

Über Martin Hülle: Martin Hülle (*1973) unternahm vor gut 10 Jahren seine erste Skitour über die Hardangervidda. Seitdem ist er immer wieder zurückgekehrt auf Nordeuropas größte Hochebene. Kamera und Notizblock waren dabei ständige Begleiter auf der Suche nach spannenden Geschichten. Denn die Fotografie und das Schreiben sind für ihn eine Lebensart – eine Möglichkeit, Gefühle einzufangen, auszudrücken und mit anderen zu teilen.

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